Leseprobe: Hansels dämonisches Abenteuer
Lesen Sie hier das erste von 24 Kapiteln des Adventskalenders: Hansels dämonisches Abenteuer:
1. Dezember: Ein verrückter Weihnachtsmann
Es war kalt geworden und es roch nach Schnee. Der alte Kostümenäher hängte sich einen weißen Bart ans Kinn und zog eine warme, rote Zipfelmütze dorthin, wo eigentlich sein Zylinder thronte. Dann ersetzte er seinen langen, schwarzen Mantel durch einen roten und die spitzen, weißen Schuhe durch schwarze Stiefel. Einen dicken, braunen Sack auf den Schultern, zog er die Tür seines kleinen, windschiefen Hauses hinter sich zu. Sein Blick fiel auf das Schaufenster seines kleinen Ladens. Er hatte weihnachtlich dekoriert: Schneeflocken, Tannengrün und Lichterketten, dazu Kostüme von Wichtelkindern und Feen. Zufrieden nickte er in sich hinein.
Rote Leuchtbuchstaben oberhalb des Schaufensters verrieten den Namen des Schneidermeisters. Hansel Handelsmann. Eigentlich hieß er ja Johannes, aber so hatte ihn nie jemand genannt. Von Kindesbeinen an war er für alle nur der seltsame Hansel gewesen, ein in sich gekehrter Einzelgänger, der weder Fußball spielen noch rechnen konnte. Seine einzige Leidenschaft war von je her das Nähen gewesen und so war es bis in das hohe Alter hinein geblieben.
Erst vor wenigen Jahren hatte der alte Hansel dieses zerfallene Häuschen bezogen. Seitdem saß er dort Tag um Tag und nähte seine Kostüme. Er tat es nur für sich selbst, denn kaum jemand wusste von ihm und seinem eigentümlichen Kostümeladen.
Schwerfällig stapfte er in die Stadt hinein. Hin und wieder machte er Halt, öffnete seinen Sack und holte ein kleines Geschenk heraus. Als Weihnachtsmann durfte er das. Wenn er sonst im Jahr mit seinem langen, schwarzen Mantel, den weißen, spitzen Schuhen und dem Zylinder auf dem Kopf durch die Straßen ging, machten alle Menschen einen großen Bogen um ihn.
Auf einer Bank vor dem Bahnhof lungerten zwei Jungen herum, 16 oder 17 Jahre alt. Einer war hager und hatte struppiges, rotes Haar. Der andere war dick und blickte düster drein. Hansel warf einen Blick auf den Dicken, ballte seine Fäuste und ging schnurstracks auf ihn zu. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er den Weihnachtmannsack ab, zog sich die Mütze vom Kopf und wedelte damit über dem Kopf des Dicken her um. „Verschwinde!“, polterte er dabei mit einer Mächtigkeit in der Stimme, die niemand ihm zugetraut hätte.
Dem Dicken blieb der Mund offen stehen. „Ein verrückter Weihnachtsmann!“, fuhr es ihm durch den Kopf, doch er war so überrascht von der Aktion, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte. Der Rothaarige erhob sich von der Bank und schob sich mutig vor den Dicken. „He, was soll das?“, fuhr er den Weihnachtsmann an. „Wir waren zuerst hier! Verschwinde du!“ „Ganz ruhig!“, gab der Alte mit väterlicher Stimme zurück und schob den Rothaarigen einfach zur Seite. Dabei wandte er seine Blicke nicht von dem Kopf des Dicken ab. „Verschwinde habe ich gesagt!“ Er fuhr mit beiden Händen durch die Luft und griff über dem Kopf des Dicken nach etwas Unsichtbarem. Der Dicke rückte irritiert zur Seite. So ein bekloppter Weihnachtsmann war ihm wahrlich noch nie begegnet.
Der Rothaarige war nicht weniger verwirrt. Wer war der Alte? Ganz sicher kam er aus einer Irrenanstalt! Aber woher hatte er das Kostüm? Es passte ihm wie angegossen. Dabei hatte der seltsame Mann ganz und gar nicht die Gestalt eines Weihnachtsmanns. Er war viel zu klein und zu dünn und einen Buckel hatte er obendrein! Der Rothaarige straffte seine Haltung. „Jetzt reicht es aber! Hau ab und lasse uns in Ruhe!“
Endlich ließ der Alte von dem Kopf des Dicken ab. „Tut mir Leid, es ist nur … ach, egal.“ Er öffnete seinen Sack, wanderte mit seinen Augen aber immer wieder zu dem Kopf des Dicken zurück: „Mal sehen, was ich für euch habe!“, brummte er in sich hinein.
„Spar dir deine Kindereien und verpiss‘ dich!“, pöbelte der Rothaarige und spuckte dem verrückten Weihnachtsmann vor die Füße. Dann sah er sich beifallheischend nach dem Dicken um. Der reagierte aber nicht. Der Weihnachtsmann beäugte nun den Rothaarigen eingehend: „Du wünschst dir Geld, nicht wahr?“ Der Rothaarige wurde nervös, öffnete den Mund, brachte aber kein weiteres Wort hervor. „Geld muss man sich verdienen!“ erklärte der Weihnachtsmann beiläufig und durchbohrte dann den Dicken mit seinen Blicken: „Was ist dein Wunsch zu Weihnachten?“ Endlich erwachte der Dicke aus seiner Starre. Er drehte den Kopf zur Seite.
Hansel packte ihn am Kinn und drehte sein Gesicht wieder herum. „Jeder Mensch hat Wünsche! Also komm‘ schon! Was wünschst du dir?“ Der Dicke senkte die Augen und zitterte leicht. Hansel griff in seinen Sack. „Wie wäre es damit?“, fragte er und zog einen gefütterten Mantel aus Leder heraus. Der sah schick aus. Dem Dicken huschte ein flüchtiges Lächeln über die Lippen. Doch er wehrte ab und schüttelte den Kopf.
Der Rothaarigen griff nach dem Mantel. „Wow, der ist teuer!“ Hansel warf dem Dicken den Mantel zu und holte noch einen zweiten aus seinem Sack. Den hielt er dem Rothaarigen hin: „Bitteschön!“ Dann warf er noch einmal einen Blick auf den Kopf des Dicken, seufzte und verabschiedete sich mit einer beinahe majestätischen Verbeugung.
Ende der Leseprobe
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